DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER
Originaltitel | LA POLIZIA CHIEDE AIUTO |
Alternativtitel | WHAT HAVE THEY DONE TO YOUR
DAUGHTERS? (USA/Großbritannien) THE COED MURDERS (USA, Griechenland) SOS SPECIAL FORCE LA POLICE DEMANDE DE L'AIDE (Frankreich) L'AME INFERNALE (Frankreich) DE DOOD VAN EEN CALL-GIRL (Niederlande) |
Land und Jahr | Italien 1974 |
Regie | Massimo Dallamano |
Produktionsfirma | Primex Italiana |
Drehbuch | Ettore Sanzò & Massimo Dallamano, basierend auf einer Idee von Ettore Sanzò |
Kamera | Franco Delli Colli |
Schnitt | Antonio Siciliano |
Musik | Stelvio Cipriani |
Regieassistenz | Mimmola Girosi |
Schnittassistenz | Loredana Cruciani |
Ausstattung | Franco Bottari |
Produktionsleitung | Paolo Infascelli |
Darsteller | Giovanna Ralli (Vittoria Stori, stellvertretende Staatsanwältin), Claudio Cassinelli (Kommissar Silvestri), Mario Adorf (Valentini), Franco Fabrizi (Bruno Paglia), Marina Berti (Polvesis Frau), Farley Granger (Polvesi), Paolo Turco (Marcello Tosti), Corrado Gaipa (Staatsanwalt), Micaela Pignatelli (Rosa), Ferdinando Murolo (Giardina), Salvatore Puntillo ("Napoli"), Steffen [=Stefano] Zacharias (Professor Beltrame), Giancarlo Badessi (Paglias Anwalt), Roberta Paladini (Patrizia Valentini), Attilio Dottesio (Gerichtsarzt), Lorenzo Piani, Eleonora Morana, Cheryl Lee Buchanan (=spätere Sherry Buchanan, aus ZOMBIES UNTER KANNIBALEN) (Silvia), Leonardo Severini, Renata Moar, Luigi Antonio Guerra, Adriana Falco, Clara Zovianoff u. a. |
deutsche Erstaufführung | 06.06.1977 |
Verleih | Cinerama |
Format | 1:2,35 (Eastmancolor) |
Laufzeit | 91 Minuten (= 2483 Meter, deutsche Kino-Version); Originallänge: 91 Minuten |
Home-Entertainment | Video: Toppic (86:25 Minuten, leicht geschnitten, Vollbild, 2 Auflagen mit verschiedenen Covern); Mike Hunter Hunter Benelux, Niederlande; Video Star, Niederlande (86:28 Minuten); Jacques Canestrier Video, Frankreich (86:44 Minuten); Video House America, Griechenland (84:01 Minuten). DVD: Salvation Films, Großbritannien (86:52 Minuten; ungeschnitten; 1:2,35; PAL; Code 0). |
Die Spur führt zum Bild:
Massimo Dallamanos DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER
"Tagtäglich ereignen sich überall
schreckliche Dinge,
für die es anscheinend keine Erklärung gibt.
Geht man ihnen allerdings gewissenhaft auf den Grund,
so kommen oft Ursachen ans Licht und Zusammenhänge,
die jedermann Anlass zu größter Sorge geben müssen."
Mit diesem markigen Voice-Over führt
Regisseur Massimo Dallamano in das höchst spekulative Setting seines Genre-Mixes
aus Giallo und Polizei-Film DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER ein. Dass im
Folgenden dann auch noch minderjährige Callgirls sowie ein beilschwingender
Leder-Fetischist im Mittelpunkt stehen, lässt scheinbar darauf schließen,
dass genügend Zündstoff vorhanden ist, um die effekthascherische italienische
Exploitation-Küche der 70er-Jahre so richtig zum brodeln zu bringen. Doch
Dallamano kocht aus der potentiellen Sleaze-Rezeptur lieber sein eigenes Süppchen
und serviert einen außerordentlich dichten, inszenatorisch wie visuell
herausragenden Thriller, der erstaunlicherweise auf unmotivierte Geschmacklosigkeiten
verzichtet. "Minestrone di gamberoni" statt "Zuppa di cozze".
Die angekündigten "schreckliche[n] Dinge" nehmen ihren Lauf, als ein 15-jähriges Mädchen nackt erhängt in einer Dachboden-Wohnung aufgefunden wird. Wie die gerichtsmedizinische Untersuchung ergibt, hatte die Unbekannte kurz vor ihrem Tod uneingeschränkten Geschlechtsverkehr und war im zweiten Monat schwanger. Auf einem Zeitungsbild erkennt die Hausangestellte der Polvesis die Tote - es ist Silvia, die einzige Tochter ihrer verreisten Arbeitgeber.
Der vermeintliche Selbstmord erweist sich schnell als vorgetäuscht, was den energischen Mordkommissar Silvestri auf den Plan ruft. Bei einer erneuten Untersuchung des Tatorts mahnt dieser selbst die stellvertretende Staatsanwältin Vittoria Stori zur Ruhe, denn Silvestri hat auf dem gegenüberliegen Häuserdach einen Verdächtigen beobachtet, der die geheime Zweitwohnung des Opfers fotografiert. Der Mann kann verhaftet werden, und man findet bei ihm Fotos, die Silvia auch vor ihrem Tod zeigen - zusammen beim Liebesspiel mit einem unbekannten Jungen. Aufgrund der Intervention eines findigen Anwalts, muss Silvestri den dubiosen Fotografen wieder auf freien Fuß setzen. Auch die heiße Spur endet in einer Sackgasse: Silvias mysteriöser Liebhaber ist ein harmloser Teenager, der sich zum Zeitpunkt des Mordes als eine Art Höhlenforscher betätigte.
Doch
dann findet man im Zuge der Ermittlungen die Wohnung, in der Silvia ermordet
wurde, ehe man sie in die Dachkammer eines anderen Gebäudes schaffte. Neben
den deutlichen Spuren eines Verbrechens, Porno-Magazinen und einem Tonbandgerät,
macht die Polizei im Badezimmer eine grauenhafte Entdeckung: Die eher an ein
Schlachthaus erinnernden, blutüberströmten Wände, weisen augenscheinlich
auf ein weiteres bestialisches Verbrechen hin - nur dass die dazugehörige
Leiche fehlt.
Im Gespräch mit Silvias mittlerweile zurückgekehrten Eltern, erhält Kommissar Silvestri weitere Hinweise. Silvias Mutter erzählt ihm, dass sie bei ihrer Tochter Verhütungsmittel gefunden hat. Als sie Silvia daraufhin zur Rede stellte, drohte diese damit, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Hilflos engagierte Frau Polvesi daraufhin einen abgehalfterten Privatdetektiv namens Talenti, der sich jedoch alsbald nicht mehr mit Silvias Problemen beschäftigen wollte. Der Vater schickte seine Tochter zu einem renommierten Psychologen, der ihm jedoch versicherte, dass Silvias Verhalten für heranreifende Mädchen normal sei. Silvestris anschließender Besuch bei dem Psychologen bleibt ergebnislos, aber immerhin kann Talentis Frau ausfindig gemacht werden. Diese verweist die Beamten auf die Sekretärin und Geliebte ihres Mannes, welche nach einem schweren Unfall im Krankenhaus ein tristes Dasein fristet.
Mittlerweile konnte die Polizei einen
abgestellten, verdächtigen Wagen ausfindig machen, in dessen Kofferraum
die zerstückelte Leiche von Talenti liegt - dem bisher fehlenden zweiten
Opfer. Silvestri
mutmaßt beim Krankenhaus-Besuch von Talentis Sekretärin, dass der
Privatdetektiv die teuren Operationen für seine Geliebten mit wohl erpresstem
Geld finanziert hat. Dazu mag die Sekretärin allerdings zunächst keine
Stellung beziehen. In der Nacht überlegt sie es sich jedoch anders und
bittet den Kommissar sofort ins Hospital zu kommen. Eine in schwarzes Leder
gehüllte, mit einem Motorradhelm maskierte Gestalt versucht Talentis Geliebte
mit einem Fleischer-Beil umzubringen, wird aber im entscheidenden Moment daran
gehindert. Bei der anschließenden Verfolgungsjagd entgeht der mysteriöse
Killer auf seinem Motorrad nur knapp Silvestri und seinen Mannen.
Die völlig aufgelöste Sekretärin zeigt den Polizisten ein Versteck, in dem sie für Talenti diverse Tonbänder und Geld aufbewahrt. Als sich Silvestri und Staatsanwältin Stori die Bänder anhören, sind sie zutiefst erschüttert, denn auf diesen befinden sich die Stimmen von jungen Mädchen, die offenbar zu perversen Sex-Spielen mit älteren Herren gezwungen wurden. Der Verdacht liegt nahe, dass ein krimineller Callgirl-Ring Minderjährige missbraucht und Talenti die Verantwortlichen mit den Bändern erpresst hat.
Der Fall wird für Silvestri und Stori immer undurchsichtiger. Wer sind die Opfer und Täter, deren Stimmen auf dem Tonband zu hören sind? Wer sind die Hintermänner des skrupellosen Sex-Kartells, welches unschuldige Mädchen einschüchtert und zu abartigen Sex-Orgien nötigt? Und wer ist der geheimnisvolle schwarze Killer, der noch immer mit einem Fleischer-Beil bewaffnet die Gegend unsicher macht und jetzt sogar Staatsanwältin Stori im Visier hat?
Fragen, auf die es zunächst keine Antwort zu geben scheint, doch dann erkennt Silvestri per Zufall eine der Tonband-Stimmen ...
Wie
schon der deutsche Verleihtitel, so suggeriert auch die bloße Wiedergabe
der Filmhandlung ein für die 70er-Jahre typisches Exploitation-Werk. In
DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER finden sich die klassischen Exploitation-Elemente
Sex, Gewalt und Verbrechen, welche, eingebunden in die Geschichte um einen Callgirl-Ring
von Minderjährigen, zu einer vermeintlich besonders brisanten Melange vermengt
werden. Das Medium Film zeichnet sich allerdings nicht allein durch den erzählten
Inhalt, sondern in erster Linie durch die Art der Inszenierung und visuelle
Gestaltung aus. Die tiefsten und eigenartigsten Wirkungen erzielt der Film im
Bild, welches auf der Leinwand wahrnehmungsmäßig dominant ist. Dessen
war sich offensichtlich auch Regisseur Massimo Dallamano bewusst, der hier das
spekulative Setting lediglich dazu benutzt, um im Genre-Kino seine eigene Vision
von Film zu visualisieren. Dabei ist Dallamano vor allem daran interessiert,
spannendes und atmosphärisches Unterhaltungs-Kino zu inszenieren, welches
- und das ist der entscheidende Punkt - filmisch erzählt. Dass der Regisseur
in seiner über 20-jährigen Filmkarriere überwiegend als Kameramann
tätig war, mag kaum verwundern. Grund genug also, zunächst einen detaillierteren
Blick auf den eher unbekannteren kreativen Filmschaffenden zu werfen.
Der am 17. April 1917 in Mailand geborene Massimo Dallamano arbeitete ab 1943 als Dokumentarfilmer, ehe er in den frühen 50er-Jahren - mittlerweile mit einem C.S.C.-Diplom ausgestattet - in den Spielfilm-Bereich wechselte. Dallamano war zunächst überwiegend als Kameramann für diverse italienische Abenteuer-, Monumental- und Bibelfilme tätig, wobei ihm die dabei gewonnen Erfahrungen zur Second-Unit-Kameraregie in der amerikanisch-spanischen Großproduktion EL CID (1962) verhalfen. Mit Riccardo Blascos 3 GEGEN SACRAMENTO (DUELLO NEL TEXAS) fotografierte er 1963 einen der ersten Italo-Western überhaupt, ein Genre, mit dem die italienische Filmindustrie erfolgreich auf die wirtschaftliche Krise des einheimischen Kinos reagierte. Nur ein Jahr später sorgte Sergio Leone mit seinem auf Akira Kurosawas YOJIMBO basierenden FÜR EINE HANDVOLL DOLLAR (PER UN PUGNO DI DOLLARI) quasi für die Initialzündung Italo-Westerns. Für die kongeniale Umsetzung von Leones herausragendem, innovativ-visuellem Erzählstil zeichnete Massimo Dallamano (unter dem Pseudonym "Max Dillman") verantwortlich, der auch bei der Fortsetzung FÜR EIN PAAR DOLLAR MEHR (PER QUALCHE DOLLARO IN PIÙ; 1965) vorzügliche Kamera-Arbeit leistete.
Sich
das bei Leone erlernte Western-Handwerk zu Nutze machend, wechselte Dallamano
1968 ins Regie-Fach und inszenierte unter dem Pseudonym Jack Dalmas den außergewöhnlichen
Italo-Western BANDIDOS. Die Story um einen Revolver-Künstler, der zwei
rivalisierende Schüler aufnimmt, erzählt Dallamano mit großer
visueller Finesse als eine Art Erziehungsgeschichte, welche die Werte der Erziehung
selbst in Frage stellt. Ebenfalls 1968 entstand DAS GEHEIMNIS DER JUNGEN WITWE
(LA MORTE NON HA SESSO), ein ausgezeichneter Giallo, in dem ein von Liebe, Eifersucht
und Misstrauen getriebener Kommissar bei der Aufklärung einer Rauschgift-Affäre
seine eigene Frau verdächtigt. Wie auch überwiegend in seinen späteren
Giallo-Beiträgen, so schildert Dallamano die mysteriösen Ereignisse
- eher genreunüblich - mit Fokus auf die Polizeiarbeit. Sein erster Giallo
war gleichzeitig sein Debüt als Drehbuchautor. Im Folgenden sollte Dallamano
alle seine Filme selbst oder zumindest als Co-Autor schreiben. Die einzige Ausnahme
bildet sein nächstes Werk, VENUS IM PELZ (LE MALIZIE DI VENERE; 1969),
eine eher auf Schauwerte ausgelegte Adaption von Leopold von Sacher-Masochs
Roman über sexuelle Unterwürfigkeit, Erniedrigung und Sadismen.
Nach der äußerst geschmacksunsicheren Literaturverfilmung von Oscar Wildes DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY (DORIAN GRAY; 1970), welche nichtsdestotrotz wegen einem blendend aufgelegten Helmut Berger und der berühmten Dusch-Szene mit Herbert Lom großen Unterhaltungswert besitzt, jedoch als Wilde-Adaption eher eine - und da ist dem katholischen FILMDIENST ausnahmsweise beizupflichten - "nichtssagende Kulissengegenwart erzielt", inszenierte Dallamano mit DAS GEHEIMNIS DER GRÜNEN STECKNADELN (COSA AVETE FATTO A SOLANGE?; 1972) den ersten Teil seiner sogenannten "Schulmädchen-in-Angst"-Trilogie. In der deutsch-italienisch co-produzierten, offiziell letzten Verfilmung eines Original-Edgar-Wallace-Romantitels, versuchen Joachim Fuchsberger und Fabio Testi rätselhafte brutale Mädchenmorde an einem Londoner College aufzuklären. Von Exploitation-Veteran Aristide Massaccesi (aka Joe D'Amato) stimmungsvoll fotografiert und mit einem brillanten Morricone-Soundtrack unterlegt, gelingt Dallamano mit seinem ausgezeichneten Thriller der Brückenschlag zwischen den erfolgreichen deutschen Horror-Krimis der 60er-Jahre und dem daraus hervorgegangenen italienischen Giallo-Kino.
Der
Giallo, ein Sub-Genre des italienischen Polizeifilms (mehr zum italienischen
Polizeifilm in der Besprechung zu EISKALTE
TYPEN AUF HEISSEN ÖFEN), wurde 1963 mit Mario Bavas LA RAGAZZA
CHE SAPEVA TROPPO (aka EVIL EYE/THE GIRL WHO KNEW TOO MUCH) ins Leben gerufen
und avancierte, durch den kommerzielle Erfolg von Dario Argentos Regie-Debüt
DAS GEHEIMNIS DER SCHWARZEN HANDSCHUHE (L'UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO;
1969) begünstigt, zum eigenständigen, wichtigen Bestandteil des italienischen
Kinos der 70er-Jahre. Die Bezeichnung "Giallo" (Italienisch für
"gelb") verweist auf die Umschlagfarbe der legendären Krimi-Groschenhefte,
welche sich an den italienischen Kiosken größter Beliebtheit erfreuten.
Ihre filmischen Pendants sind äußerst blutige Thriller, in denen
ein meist schwarze Handschuhe tragender Unbekannter vorwiegend jungen hübschen,
leicht bekleideten Mädchen nach dem Leben trachtet. Die nach einem Whodunnit-Schema
konstruierten Filme benutzen die Polizeiarbeit (und auch das Whodunit) häufig
nur als Vorwand für eine Reise in die erotische Komponente des Verbrechens.
Der ermittelnde Polizist bewegt sich dabei in einer Art katholisch geprägtem
Empfinden von Schuld und Sühne, während die Auslöser der Delikte
immer tief in die Kindheit und die Sexualität hineinreichen. Thema des
Subtextes ist die Beziehung zwischen stählernen Objekten, die zu Waffen
werden, und weiblichen Körpern. Gialli funktionieren eher über die
verspielte visuelle Gestaltung, als durch den eigentlich erzählten Inhalt.
"Style over story" heißt die Devise, und dabei werden die Zuschauer
häufig in die voyeuristische Rolle des Täters gedrängt, aus dessen
subjektiver Perspektive die Verbrechen zu sehen sind.
Genau mit diesen Elementen arbeitet Dallamano auch in DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER, dem zweiten und besten Teil seiner "Schulmädchen-in-Angst"-Trilogie, der direkt nach SI PUÒ ESSERE PIÙ BASTARDI DELL'ISPETTORE CLIFF? (aka MAFIA JUNCTION/SUPER BITCH; 1973; kein deutscher Verleih) entstand. Den Abschluss der Reihe bildet Alberto Negrins etwas schwächerer DIE ORGIE DES TODES (aka DAS PHANTOM IM MÄDCHENPENSIONAT/ENIGMA ROSSO; Dallamano lieferte posthum nur das Drehbuch) aus dem Jahre 1978.
Im
Anschluss folgten noch das Sex-Drama INNOCENZA E TURBAMENTO (INNOCENCE AND DESIRE;
1974; kein deutscher Verleih), der sehenswerte Exorzismus-Horrorfilm IL MEDAGLIONE
INSANGUINATO (aka PERCHÉ?!/THE NIGHT CHILD; 1975; kein deutscher Verleih)
sowie das mit der hübschen Annie Belle und ALIEN 2-Regisseur Ciro Ippolito
besetzte Coming-Of-Age-Abenteuer ANNIE BELLE - ZUR LIEBE GEBOREN (aka BLUE BELLE/LA
FINE DELL'INNOCENZA; 1975), ehe Dallamano 1976 mit dem soliden "Poliziesco"
KALIBER 38 - GENAU ZWISCHEN DIE AUGEN (QUELLI DELLA CALIBRO 38) seinen letzten
Film inszenierte. Kurz nach den Dreharbeiten zum düsteren, brillant fotografierten
Action-Cop-Movie um eine geheime Polizei-Spezialeinheit, wurde Dallamano Opfer
eines Autounfalls. Er verstarb am 04. November 1976.
Massimo Dallamanos Genre-Arbeiten sind vor allem deshalb außergewöhnlich, weil der kreative Regisseur in ihnen einen ausgefeilten visuellen Stil benutzt, der das Geschehen im Bild erzählt. Auch wenn Dallamanos spätere Genre-Beiträge auf den ersten Blick weit weniger spektakulär gefilmt erscheinen als noch DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER, so folgen sie doch ebenso dem visuellen Erzählprinzip. Genau dies ist das maßgebliche Kriterium, welches Dallamano von vielen seiner Regie-Kollegen unterscheidet. Filmhandwerkliche Kompetenz ist im Exploitation-Kino nicht selten, dezidiert filmisches Erzählen schon. Nicht durch die bloße Bebilderung des erzählten Inhalts nach bestimmten technischen Regeln, sondern durch das tatsächliche Erzählen im bewegten Bild, wird Film eigentlich erst wirklich zum Medium Film. Um es aber nochmals zu betonen: Dallamano verstand sich nicht als großer ambitionierter Filmkünstler, der essentielle menschliche Probleme thematisieren und Erkenntnis liefern wollte, sondern als jemand, der in den Grenzen des Exploitation-Kinos seine eigene Vision von Film visualisierte - eine Vision, welche direkt zum wesentlichsten Bestimmungsmerkmal des Mediums Film führt.
Nach
diesem visuell orientierten Erzählprinzip ist Massimo Dallamanos DER TOD
TRÄGT SCHWARZES LEDER konstruiert. Exemplarisch sollen im Folgenden zwei
Szenen herausgegriffen werden, welche Dallamanos Methode verdeutlichen und darüber
hinaus auch einen weiteren interessanten Aspekt beinhalten - die schwierige
Kombination von Wort und Bild.
Die erste dieser Szenen befindet sich am Ende des Films. Darin berichtet beim Polizei-Verhör ein junges Mädchen davon, wie einer der Hintermänner des Callgirl-Rings die Minderjährigen "gefügig" machte, um sie anschließend zu missbrauchen. Dallamano visualisiert diese Erzählung mittels einer Rückblende, bei der aus dem Off die Stimme des Mädchens zu hören ist. In ihrer Schilderung lässt das Opfer jedoch einige entscheidende Details aus, die nun symbolisch ins Bild gerückt werden (z. B. der Slip des Mädchens, den dieses nach ihrer Ohnmacht auf dem Boden entdeckt). Geschickt vermeidet Dallamano hier die bloße Doppelung von Wort und Bild - ein häufiges Problem beim Einsatz von Off-Kommentaren - und inszeniert die Rückblende, trotz des eigentlich höchst spekulativen Inhalts, sensibel und konsequent filmisch.
Beim zweiten Beispiel tritt die visuelle Ebene zugunsten des gesprochen Wortes bewusst in den Hintergrund. Gemeint ist die Szene, in der sich Staatsanwältin Stori und Kommissar Silvestri die Tonbänder anhören, welche sie in Talentis Versteck finden konnten. Während im vorderen rechten Bildkader das laufende Tonbandgerät überdimensional groß zu sehen ist, lauschen die beiden Staatsdiener im linken hinteren Bildkader schockiert und gebannt den aufgezeichneten Stimmen. Von einem kurzem Zwischenschnitt auf das Tonbandgerät abgesehen, verharrt die Kamera etwa 2,5 Minuten lang in dieser Einstellung. Aus dem Off sind während des gesamten Zeitraums die Dialoge verschiedener Pärchen - immer ein junges Mädchen zusammen mit einem älteren "Herrn" - bei Sex-Spielen zu hören. Die fixierten, extremen Ereignisse finden durch das gesprochene Wort ausschließlich im Kopf des Zuschauers statt, wobei die im Bild beobachtbaren Reaktionen von Stori und Silvestri als Spiegelungen seiner provozierten Empfindungen dienen. Genau diese Technik macht die Szene so ungemein intensiv, ja fast unerträglich - und zwar fernab jeglicher genreüblichen graphischen Präsentationsform.
Überhaupt
sind es nicht die wenigen explizit dargestellten Gewaltakte, welche für
den relativ harten, unangenehmen Ton von DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER
verantwortlich zeichnen. Viele der grausamen Ereignisse werden gar nicht erst
im Bild gezeigt, sondern bohren sich durch Beschreibungen ins Bewusstsein, wie
beispielsweise die verbale Post-Mortem-Analyse des ersten Opfers. Wenn Dallamano
allerdings auch im Bild graphisch wird, so hat dies immer eine wichtige Funktion
für die Erzählung. Im Gegensatz zu vergleichbaren Genre-Vertretern
weidet sich die Kamera dabei nicht in expliziten Detailaufnahmen, sondern zeigt
nur kurz den brutalen Moment. Besonders effektiv ist Dallamanos Verfahren, den
eigentlichen Gewaltakt gänzlich auszusparen und nur das Ergebnis desselben
in einer knappen Einstellung zu visualisieren. Als die Behörden das Badezimmer
entdecken, in dem Talenti ermordet wurde, schwenkt die Handkamera flüchtig
durch den blutüberströmten Raum, um nach einer 360-Grad-Drehung schließlich
die Reaktionen von Stori und Silvestri zu zeigen, die entsetzt in der Eingangstür
stehen. Der Betrachter mag erahnen, welch grauenvolle Ereignisse hier stattgefunden
haben.
Aussparungen sind auch die große Stärke von Dallamanos Drehbuch, das seiner Erzählung ein enormes Tempo verleiht. Auf die Schilderung der Polizei-Recherchen wird häufig bewusst verzichtet, der Zuschauer nur mit den Ergebnissen derselben konfrontiert. Exemplarisch sei erneut auf die Szene verwiesen, in welcher der Tatort der ersten beiden Verbrechen gefunden wird. Dallamano führt diesen Handlungsort nur mittels eines knappen Dialogs ein, ohne die eigentlichen Ermittlungen zu thematisieren. Eine wichtige Funktion übernimmt in diesem Zusammenhang die Figur von Silvestris Partner, der häufig Rechercheaufträge erhält, die weitestgehend im Hintergrund ablaufen. Dem Zuschauer werden nur die für die Geschichte relevanten Resultate präsentiert. Die ebenso ökonomische wie effiziente Erzählstruktur ermöglicht die Fokussierung auf das Wesentliche und schafft den nötigen Raum für Dallamanos außergewöhnlichen Inszenierungs-Stil.
Grundsätzlich
in ruhigen, wohlkomponierten Cinemascope-Bildern fotografiert (ein Umstand,
der die deutsche Video-Vollbild-Fassung nahezu unansehbar macht), bricht Dallamano
immer wieder die Struktur auf, um seine Kamera in einigen wichtigen Handlungsabschnitten
in Bewegung zu setzen. Der nächtliche Anschlag des Killers auf die im Krankenhaus
liegende Sekretärin Talentis ist per Handkamera mit Weitwinkelobjektiv
gefilmt. Dies schafft nicht nur eine bedrohliche Atmosphäre, welche durch
die vorzügliche Beleuchtungstechnik noch verstärkt wird, sondern lässt
auch den Zuschauer die Ereignisse unmittelbar miterleben. Gleiches gilt für
die anschließende Verfolgungsjagd, in der Dallamano mit vielen, leicht
verwackelten Detailaufnahmen des flüchtenden Motorradfahrers und seinen
Verfolgern, genauer von ihren Fahrzeugen, ein Höchstmaß an Unmittelbarkeit
erreicht. Natürlich sind dies ebenso Genre-übliche Gestaltungsmittel,
aber die geschickte Kombination derselben mit dem über weite Strecken eher
statischen, nichtsdestotrotz extrem visuellen Stil machen DER TOD TRÄGT
SCHWARZES LEDER zu einer echten Ausnahme-Erscheinung im Exploitation-Kino.
Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hat auch das exzellente, bis zu den kleinsten Nebenrollen wohlüberlegt besetzte Schauspieler-Ensemble, welches die Film-Figuren glaubwürdig verkörpert und ihnen das erforderliche Leben einhaucht.
Im Mittelpunkt stehen der exploitationerfahrene
Claudio Cassinelli als Kommissar Silvestri und in der Rolle von Staatsanwältin
Vittoria Stori die in ihrem Heimatland sehr bekannte Römerin Giovanna Ralli,
die u. a. in Enzo Girolamis (aka Enzo G. Castellari) GLI OCCHI FREDDI DELLA
PAURA (aka
COLD EYES OF FEAR; 1971; kein deutscher Verleih) und Sergio Corbuccis exzellenten
Italo-Western MERCENARIO - DER GEFÜRCHTETE (IL MERCENARIO; 1968) zu sehen
war. Cassinellis knapp 20-jährige Schauspieler-Karriere umfasste viele
italienische Exploitation-Beiträge, von teils ambitionierteren Projekten
wie CASTIGATA - DIE GEZÜCHTIGTE (aka NONNEN BIS AUFS BLUT GEQUÄLT/FLAVIA
LA MONACA MUSULMANA; 1973) oder Luciano Ercolis ausgezeichneten "Poliziesco"
KILLER COP (LA POLIZIA HA LE MANI LEGATA; 1974) bis hin zu Sergio Martinos spekulativer
Abenteuer-Serie mit Horrorelementen, DIE WEISSE GÖTTIN DER KANNIBALEN (LA
MONTAGNA DEL DIO CANNIBALE; 1978), DIE INSEL DER NEUEN MONSTER (L'ISOLA DEGLI
UOMINI PESCE; 1979) und DER FLUSS DER MÖRDERKROKODILE (IL FIUME DEL GRANDE
CAIMANO; 1979). Außerdem filmte er des öfteren mit ausgewiesenen
Kunst-Regisseuren wie Liliana Cavani. Während der Dreharbeiten zu seinem
letzten Film, dem ebenfalls von Sergio Martino inszenierten unterhaltsamen Endzeit-Streifen
PACO - KAMPFMASCHINE DES TODES (VENDETTA DAL FUTURO; 1985), ist Cassinelli bei
einem tragischen Hubschrauber-Absturz ums Leben gekommen.
Einen kurzen Überblick zur Exploitation-Karriere von Mario Adorf zu geben, wäre nicht nur vermessen, sondern würde auch den Rahmen dieses Artikels sprengen. Der gebürtige Schweizer, in DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER in einer kleineren, aber wichtigen Nebenrolle zu sehen, arbeitete vor allem in den 60er und frühen 70er Jahren im Exploitation-Bereich, ehe er dann zum renommierten Charakterdarsteller aufstieg. Erwähnenswert ist auch die Beteiligung von Exploitation-Legende Franco Fabrizi als schmieriger Fotograf und Marina Berti als Silvias Mutter, ein Jahr später übrigens erneut gemeinsam in Aldo Lados MÄDCHEN IN DEN KRALLEN TEUFLISCHER BESTIEN (L'ULTIMO TRENO DELLA NOTTE; 1975) vor der Kamera, während Silvias Vater mit dem zweifachen Hitchcock-Hauptdarsteller Farley Granger (COCKTAIL FÜR EINE LEICHE und DER FREMDE IM ZUG) besetzt ist. Und schließlich soll noch der Gerichtsmediziner Attilio Dottesio Erwähnung finden - als experimentierfreudiger Doktor in Sergio Garrones Nazifilmen stets in unrühmlicher Erinnerung.
Zu
guter Letzt sei noch auf den wunderbaren Soundtrack von Stelvio Cipriana (aka
Steve Powder) verwiesen, den Dallamano nicht zur simplen Untermalung, sondern
vor allem als rhythmisierendes Element einsetzt. Seit 1966 komponiert der heute
noch tätige Cipriani Filmmusik, und sein Oeuvre umfasst weit über
einhundert Spielfilm-Titel, überwiegend aus dem Exploitation-Bereich. DER
TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER zählt mit Sicherheit zu seinen besten Arbeiten.
Umso bedauerlicher, dass dieser vor langer Zeit auszugsweise als Single veröffentlichte
Soundtrack bisher nicht in digitaler Form erhältlich ist.
Massimo Dallamanos DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER - und das sollte aus der (kleinen) Analyse deutlich geworden sein - zählt zu den wenigen Vertretern des Exploitation-Kinos, die sich zwar aufgrund bestimmter Handlungsmuster der Gattung verpflichten, durch die außergewöhnliche Form der Inszenierung aber weit über die Grenzen derselben hinausreichen. Glücklicherweise hat dies mittlerweile auch SPLATTING-IMAGE-Ikone und Spaghetti-Experte Christian Keßler erkannt. Sein Aufstieg zum international renommierten Filmgelehrten geriet nämlich in Gefahr, als er in der 17. Ausgabe des SI-Magazins (März 1994) Dallamanos Werk mit 7 von 10 möglichen Punkten noch eklatant unterschätzte. Erst drei Jahre später (siehe SI Nr. 29, März 1997) konnte sich Keßler durch eine äußerst gelungene Rezension rehabilitieren.
Im Werk von Massimo Dallamano gibt es zahlreiche lohnenswerte Entdeckungen zu machen, von denen DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER nur ein - wenn auch herausragendes - Beispiel ist. Die Spur führt dabei ins Zentrum dessen, was Film eigentlich ausmacht: zum Bild. "Look closer" hieß der Slogan einer Werbekampagne zu einer amerikanischen Produktion. Diese Aufforderung gilt insbesondere für Dallamanos Filmschaffen. Und deshalb, um es mit einer Tonbandstimme aus DER TOD TRÄGT SCHWARZES LEDER zu sagen, "treten wir [jetzt] ein, in unsere glückliche Welt."
© by SAILOR RIPLEY
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