MÄDCHEN IN DEN KRALLEN TEUFLISCHER BESTIEN
Originaltitel | L'ULTIMO TRENO DELLA NOTTE |
Alternativtitel | NIGHT TRAIN - DER LETZTE ZUG
IN DIE NACHT (dt. Alternativtitel) NIGHTTRAIN MURDERS (Export-Titel) |
Land und Jahr | Italien 1974 |
Regie | Aldo Lado |
Produktionsfirma | European Incorporated [= Roberto Infascelli] |
Drehbuch | Aldo Lado & Renato Izzo |
Kamera | Gabor Pogany |
Schnitt | Alberto Gallitti |
Musik | Ennio Morricone; Titelsong "A Flower's All You Need" von Demis Roussos |
Darsteller | Flavio Bucci (Chef der Banditen), Gianfranco de Grassi (sein Partner), Enrico Maria Salerno (Professor Giulio Stradi), Laura d´Angelo (seine Frau), Macha Meril (wohlhabende Frau), Marina Berti (Lisa), Irene Miracle (Lisas Freundin), Franco Fabrizi (Passagier), Daniele Dublino (Abendgast), Dalila di Lazzaro (Abendgast) u. a. |
deutsche Erstaufführung | 12.08.1976 |
Verleih | Nobis |
Format | 1:1,85 |
Laufzeit | 90 Minuten (deutsche Kino-Version); Originallänge: 91 Minuten |
Home-Entertainment | Video: Videophon (geschnitten und abgedunkelt, 1:1,85, als MÄDCHEN ...); Bestvideo, Niederlande (ungeschnitten, Vollbild, als NIGHTTRAIN MURDERS). |
Nachdem Aldo Lado in MALASTRANA bereits
recht anschaulich demonstrierte, wie eine reaktionäre, in verstaubten Konventionen
erstarrte Generation die junge, nach Freiheit strebende Nachkommenschaft ausbeuten
kann, war es nur eine Frage der Zeit, bis er sich auch der Kehrseite der modernen
Freizügigkeit und Zwangsliberalisierung widmen würde. Würde
es hier zu einer der üblichen konservativen Diffamierungen der Flower-Power-Ära
kommen, in der enthemmte Hippies wehrlose Jungfrauen vergewaltigen und durch
rüdes Betragen ältere Mitbürger vor den Kopf stoßen?
Auf den ersten Blick (= ohne den Film gesehen zu haben) könnte man L'ULTIMO TRENO DELLA NOTTE genau so beschreiben. Es geht um jugendliche Straftäter, die zwei junge Mädchen misshandeln, diese später umbringen und dann ihre verdiente Strafe erhalten. Eine bürgerliche Moralstory also, in der die Werte einer vermeintlich gesunden Mittelschicht bedroht werden, aber durch das beherzte Eingreifen eines ausgewählten Bürger-Meisters vor dem Untergang bewahrt werden. Richtig?
Falsch! Im Unterschied zum vergleichbaren LAST HOUSE ON THE LEFT (aka MONDO BRUTALE) von Wes Craven, der weitgehend dieselbe Storyline verwendet, geht L'ULTIMO TRENO sehr differenziert mit seinem Material um. Durch geschicktes Einfügen unerwarteter Einzelheiten wird der Zuschauer in seinen Erwartungen ständig getäuscht. Die Welt, in welcher der Film spielt, ist viel komplizierter, als sich dies die Filmweisheit träumen lässt ...
Der Beginn des Films zeigt eine verkommene Welt der Gewalt und des Lasters, noch dazu zu Weihnachten! Während Margaret und Lisa sich beeilen müssen, um noch den Zug zu erreichen (sie wollen Lisas Eltern in der Nähe von Verona besuchen), machen zwei Rüpel der gröberen Sorte den Christkindlmarkt von München unsicher. Selbst vor dem Weihnachtsmann schrecken sie nicht zurück, denn dieser wird brutal zusammengestaucht und seiner Barschaft beraubt. Die Flucht treibt die Verbrecher in einen Zug.
Natürlich
in den von Margaret und Lisa. Hier fährt man nun fort, die Fahrgäste zu belästigen.
Die Rowdies - deren einziger Daseinszweck darin besteht, andere Menschen zu
quälen und zu schikanieren; die Bosheit ist reiner Selbstzweck - benehmen sich
wie unter Drogen gesetzte Wildschweine.
Kurze Kontemplation. Wer befindet sich noch im Zug? Nette freundliche Menschen - wie der Familienvater, der, als er beobachtet, wie der Schaffner untergebuttert wird, zwar noch hervorstößt "Dieses Gesindel, man müsste ihm doch helfen!", aber selbst schnell zusieht, dass er Land gewinnt. Auch ansonsten haben wir echte Leckerbissen anzubieten: einen fetten Geschäftsmann, der sich im Mund rumpult; einen kirchlichen Würdenträger, dessen Leblosigkeit gelegentlich durch ein seine Umwelt verstörendes Zwinkern durchbrochen wird ("Es ist nur ein nervöses Zucken!", flüstert ein Novize mit großen Augen); lauter Ski-Proleten der Sorte, wie sie mir das Zugfahren schon seit geraumer Zeit verleidet haben. Kurz, es scheint sich schon hier um den "letzten Nachtzug" zu handeln. Doch nein, der kommt später.
Zuerst
sorgen die Bösewichter für Unruhe. Einer von beiden macht sich sogar an eine
Bürgersfrau ran (die, wie ein Unfall vorher enthüllt hat, unzüchtige Fotos in
der Handtasche hat), welche sich eingangs wehrt, dann die große Welt des Desperadotums
in vollen Zügen genießt. So sehr gar, dass sie sich den beiden Bürgerschrecks
in ihrem bösen Tun anschließt. Zunächst ist dies böse Tun allerdings vertagt,
denn eine Sonderkontrolle bringt den Zug zum Stehen.
Die Bösewichte müssen auf einen obskuren Direktzug nach Verona ausweichen, um den Hütern der Ordnung zu entgehen. Die beiden Mädchen beweisen erneut eine wenig glückliche Hand, denn auch sie entscheiden sich für den Nachtzug. Denn, jawohl, dies ist "l'ultimo treno della notte"! Nicht lange dauert es, und die fiesen Drei haben entdeckt, dass Jungfrauenärgern Spaß macht. Durch sexuelle Zügellosigkeit und Drogenmissbrauch kommt es dann zur Katastrophe: Beide Mädchen müssen ihr Leben lassen und werden durchs Fenster entsorgt.
Wer
wartet am Bahnhof von Verona? Wem laufen die Verbrecher in die Arme? Von wem
lässt sich der weibliche Teil des Trios verarzten? Von Lisas Vater, einem gewidmeten
Mediziner. Parallel zu den Vorgängen im Zug hat der Zuschauer bereits einiges
über Dr. Stradi erfahren: "Ein englischer Lord ist neben ihm ein Hippie!", bemerkt
seine Frau an einer Stelle über ihn. Seine Berufsethik ist makellos und hingabevoll.
Er ist der Doktor, den man sich immer gewünscht hat. Leichte Defizite gibt es
allerdings im familiären Bereich, wo nicht alles zum Besten steht, aber damit
muss man in Bürgerfamilien eben rechnen. "Schaffe, schaffe, Häusle baue", spricht
der Schwabe und lächelt stumm in sich hinein. Ein Haus, das sind vier Wände
und ein Dach.
Als Mensch hat Dr. Stradi gelernt, dass ein menschliches Wesen durchaus nicht mehr ist als die Summe seiner Teile: Das anatomische Puzzlespiel hat sich für ihn bereits gelöst. Seine Auffassungen sind klarumrissen und unumstößlich. Dem entgegnet ein Freund der Familie bei einem Weihnachtsdiner, die Gesellschaft selbst erzeuge doch Gewalt und verarzte, statt ihre Ursachen zu bekämpfen, nur die Symptome. Der über die Unterhaltung sichtlich ungehaltene Stradi antwortet: "Wer weiß, was da alles schlummert ..." Man merkt ihm allerdings an, dass er dies mehr aus konversationeller Diplomatie äußert denn aus wahrer Überzeugung. Für sich selbst hat er bereits ein Fazit gezogen.
Tja,
leider. Leider treibt ihm das Schicksal die Mörder seiner Tochter in die Hände.
Leider bekommt er diesen Umstand heraus. Leider bricht daraufhin seine zivilisierte
Fassade endgültig zusammen, die Bestie Mensch kommt zum Vorschein ...
Fern davon, ein dröge-intellektueller Film zu sein, fällt L'ULTIMO TRENO DELLA NOTTE nicht nur durch seine ausgezeichnete Inszenierung und das geschickt strukturierte Drehbuch auf, sondern auch durch die fast schon diabolische Weise, mit der Autor-Regisseur Aldo Lado die Erwartungen des Publikums durchkreuzt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Szene, in der die Bösewichte eines der Mädchen vergewaltigen: Ein Zuggast (Franco Fabrizi), der zufällig auf die Ereignisse im Abteil aufmerksam wird, läuft nicht etwa zum Schaffner, um dem Mädchen zu helfen - er schaut vielmehr zu, sichtlich angetörnt von dem Schauspiel, und macht dann sogar, als die Schurken ihn dazu auffordern, fröhlich mit. Hoyerswerda ist halt überall. Im Nachhinein ist ihm sein Verhalten natürlich peinlich - anonym ruft er die Polizei an und verrät die Mörder.
Diese unglaubliche Feststellung -
der zivilisierte Mensch ist schon so weit, dass es ihn insgeheim selbst danach
gelüstet, das zu tun, was
die "perversen" Verbrecher hier ungehemmt ausagieren - ist allerdings ungewöhnlich
und hat nichts mehr mit der These zu tun, der Mensch sei die "Krone der Schöpfung".
Bei Lado sind es gerade die Netten, Sauberen und Angepassten, welche die wahrhaften
Monster im Film repräsentieren. Nicht umsonst gelingt es der bürgerlichen Partnerin
der Mörder schließlich, sich herauszuwinden. Lados Werk demonstriert, wie leicht
es ist, hassenswerte Klischeebilder zu formen, die nur einen Teil der Wahrheit
erfassen und den Zugang zu den wirklichen Vorgängen unmöglich machen. Böse ist,
wer es sich nicht leisten kann, diesen Umstand zu verbergen. Keine These für
eine fröhliche Cocktailrunde.
Neben der äußerst gelungenen Inszenierung (recht hektisch während der Zugepisoden; ruhiger/geordneter, wenn es dann ins bürgerliche Umfeld geht) profitiert L'ULTIMO TRENO von vorzüglichen Darstellerleistungen (Macha Meril als Bürgerin mit Geschmack an anarchistischem Chic, Enrico Maria Salerno als Arzt mit Wut im Bauch, Flavio Bucci als David-Hess-Lookalike) und der feinen Morricone-Musik, die u. a. ein Thema enthält, das sich rhythmisch an dem Stampfen einer Lokomotive orientiert und Mundharmonikas als Zugsignale einsetzt. Sehr befremdlich der von Demis Roussos (dessen "Goodbye, my love, goodbye" vielleicht einigen Vertretern meiner Generation noch in den Ohren gellt) gesungene Titelsong des Filmes, "A Flower's All You Need", der schon einen Bierdeckel wert ist ...
© by CHRISTIAN KESSLER
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